von Christian Reder
Manchmal kann die Trennung eines Musikers von „seiner“ Band auch etwas Gutes an sich haben. Natürlich ist es ein tiefer Schnitt, wenn man nach 35 Jahren eine Kapelle verlassen muss, um den selbstinszenierten Festspielen des Frontmanns nicht weiter im Wege zu stehen (oder ihnen beiwohnen zu müssen). Man verliert ein Stück Seelenheimat. Auf der anderen Seite bekommt man die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, einen Neustart hinzulegen und Dinge besser zu machen, die an alter Wirkungsstätte nicht (mehr) funktioniert haben. Dies tat der ehemalige PUR-Drummer Roland Bless im Jahre 2010 und verließ die Band, die er Mitte der 70er mitgegründet hatte. Die verbliebenen Musiker suchten sich einen neuen Schlagzeuger und produzierten bis heute drei weitere Alben. Zuletzt das im Jahre 2018 erschienene Album „Zwischen den Welten“, dem die gleiche Spannung innewohnt, als würde man jemandem beim Aufbauen eines Billy-Bücherregals zuschauen. Gewohnte Pop-Schlager-Kost ohne irgendwelche überraschenden Momente. Roland Bless setzte im Frühjahr 2011 mit seinem ersten Solo-Album „Zurück zu Euch“ eine erste Duftmarke und ließ die Welt wissen, wie er sich die Verbindung von Musik und Inhalt vorstellt. Er hatte laut eigener Aussage schon zu PUR-Zeiten ein paar andere musikalische Ideen, die für die ehemaligen Kollegen wohl ein wenig zu tollkühn waren. Für sein zweites Solo-Album ließ sich Roland Bless eine ganze Menge Zeit, denn dem Erstling folgte lange nichts. Nach acht Jahren Pause kehrt er nun mit „Sternenstaub“ zurück. Gut Ding will eben Weile haben …
Einen klassischen Deutschrock-Song finden wir mit „Ich will Dich nie mehr verlieren“ gleich zu Beginn der Scheibe. Ein treibender Beat, eine ordentliche Portion E-Gitarren und eine Melodie, die gleich hängen bleibt. Ein idealer Song nicht nur um ein Album zu eröffnen, sondern auch um ihn als Single zu veröffentlichen. Von gleicher Machart ist „Wir tanzen ins Licht“, das etwas später auf dem Album zu hören ist.
Als Botschafter des Friedens versucht sich Bless mit dem Song „Freiheit und Frieden“, einer Hymne, die schon im Titel verrät, welches Anliegen dem Künstler auf der Seele brennt. Und weil gerade zwischen den USA und Russland wieder Eiseskälte herrscht, transportiert der Künstler seine Botschaft im Refrain auch gleich in der jeweiligen Landessprache. Coole Idee. Solche Lieder kennt man noch aus den 80ern, als der kalte Krieg Angst vor dem Ende der Welt machte. Sie gerieten schließlich auch durch scheinbar gut vorangehende Annäherungen zwischen Ost und West auf der großen politischen Bühne in Vergessenheit, können inzwischen aber leider wieder ein Revival feiern, denn nicht nur zwischen den Staaten und Russland ist die Kacke ja bekanntlich am dampfen …
Weg von der Weltpolitik und hin zum Zwischenmenschlichen: Für die Nummer „Ich bin wieder verliebt“ wurde im Studio das Saxophon ausgepackt, das diesem Song die besondere Note und die Wiedererkennbarkeit verschafft. Ebenfalls ein Vertreter der flotteren Gangart, rockt und rollt sich das Lied ins Ohr und ins Gedächtnis. Gute-Laune-Musik für den Sommer.
Apropos „Sommer“: Der wird im folgenden „Es war Sommer. Es war Nacht“ von den für dieses Album im Studio aktiven Musikern mit ihren Instrumenten gefeiert. Spanische Flamenco-Elemente, verbaut in einem tanzbaren Popsong, der einen im verschneiten deutschen April die Magie einer sommerlichen Nacht am spanischen Strand in den Kopf und die Situation, zu zweit in einer Taverne sitzend, vor das innere Auge projiziert. Funktioniert in der Bless’schen Ausführung jedenfalls ganz wunderbar und stellt das absolute Gegenteil dieser von Frank Farian in den 90ern ins Arrangement jedes NO MERCY-Songs gekübelten Kleister dar, der so eine Nummer dann schnell mal schmierig-klebrig und wie eine billige Fahrstuhlmusik für mallorquinische Hotels werden lässt.
Das komplette Gegenteil ist „Mit Dir“, eine Ballade, die ziemlich geräuschlos zwischen den schnelleren Nummern und direkt im Anschluss an eben näher beschriebenen Urlaubs-Soundtrack gestellt wurde, und das wahrscheinlich auch deshalb etwas verloren geht. Es ist allerdings auch der schwächste Titel auf dem Album. Auch „Du bist bei mir“ ist eine Ballade, eine in sich ruhende und leise Nummer, die jedoch um einige Prozentpunkte besser gelungen ist als „Mit Dir“. Das feine Saxophon-Solo zaubert hier den besonderen Moment ins Arrangement und auch der Inhalt geht tiefer, als er es bei der anderen Ballade tut. Klasse.
Die für mich „zweitbeste“ Lied-Schöpfung auf dem Album ist „Sternenreise“. Toll arrangiert, gut gesungen und genau wie das erste Stück auf der Platte ein waschechter Deutschrocker mit verschärftem Gitarrensolo im Mittelteil. Dicker Pluspunkt ist die Tatsache, dass sich die Melodie im Ohr festbeißt. Auch der Song könnte ein Radiohit werden, sollte er als ständige Vertretung für das Album in Form einer Single in Umlauf kommen.
Wenn ich schreibe „zweitbester“ Song, dann gibt es natürlich auch den für mich besten Song auf der Platte. Und der heißt „Du fliegst mit den Sternen“. Vor fünf Jahren machte die Geschichte um Tugçe Albayrak die Runde. Die junge Frau wurde am Morgen des 15. November 2014 auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants von einem Mann niedergeschlagen und erlitt bei dem darauffolgenden Sturz ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Sie fiel ins Koma, aus dem sie nicht wiedererwachte. Nachdem am 28. November 2014, ihrem 23. Geburtstag, die intensivmedizinischen Maßnahmen eingestellt wurden, starb sie viel zu jung und aufgrund eines so überflüssigen Anlasses. Ganz Deutschland nahm damals Anteil an dieser Tragödie und Roland Bless hat ihr mit diesem Lied nun ein Denkmal gesetzt. Der vom Rhythmus her recht zügig arrangierte Titel wühlt die Geschichte nochmals auf und im Inneren des Hörers gleichzeitig auch die Seele. Das Stück fasst Dich an und trifft Dich in Mark und Bein, wenn Du die Hintergründe kennst.
Der Grat zwischen deutscher Popmusik und leichter Schlagerkost ist sehr schmal und stellt für viele Künstler eine hohe Unfallgefahr dar. Auf diesem Grat balanciert Bless jedoch ziemlich sicher und ohne zu stolpern. Mehr noch: Er hat eine feine Mischung aus Anspruch und dem Massengeschmack gut gefallendem Party-Feeling gefunden, die sich immer wieder in der Musik deutlich herauskristallisiert. Selbst wenn ein Lied auf den ersten Blick bzw. beim ersten Hören wie ein stinknormaler Song aus dem Formatradio-Programm klingen sollte, entfaltet es jedoch auf den zweiten Blick bzw. beim zweiten Hördurchgang seine volle Blüte. An einer Stelle singt uns der ehemalige PUR-Schlagzeuger ein Lied über die Liebe, so wie das auch viele andere seiner Kollegen tun, um damit Radiospielzeiten und TV-Einsätze zu bekommen, um im nächsten Moment ein Stück über den fehlenden Frieden in der Welt oder das eben ausführlich beschriebene Unglück, das einer Lehramtsstudentin geschehen ist, zu singen und damit Inhalte zu transportieren. Mit dieser Platte könnte Bless also nicht nur die Massen erreichen, sondern auch die Hörer, die sich sonst ihre Musik in Nischen suchen und viel Wert auf Inhalte und tolle Song-Ideen legen. Der Künstler kann sich jedenfalls sicher sein, dass man sein Album der Beobachtung eines Regalaufbaus vorziehen wird 😉